36 - Fraunhofer. Das Magazin 2.20 »Ich glaube, dass mein Bewusstsein für die Zeit diebe gewachsen ist.« Lorenz Erdmann So fühlen sich heute viele wie in Michael Endes weltbe- rühmtem Kinderbuch »Momo«: Je schneller sie arbeiten, desto weniger Zeit bleibt – ein Hamsterrad, das sich immer schneller dreht und aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. »Das Leben wird voller«, ist auch Lorenz Erdmann überzeugt. Zusammen mit Partnern von der TU Berlin und der Leuphana Universität Lüneburg will er Rosas These jetzt empirisch überprüfen – und untersuchen, welche Auswirkun- gen der Effekt auf Gesellschaft, Wirtschaft und nachhaltigen Konsum hat. Schlafen, Sport machen und ausruhen – das wollten die meisten Dafür entwickeln Erdmann und seine Kollegen ein Simulati- onsmodell, das sie mit Daten aus den Zeitverwendungsstudi- en des Statistischen Bundesamtes, Daten zu CO2-Emissionen, Ernährung, Mobilität, digitalen Medien, E-Commerce etc. füttern. Wichtige Grundlage sind außerdem die Daten aus einer eigens für das Projekt »Zeit-Rebound, Zeitwohlstand und nachhaltiger Konsum (ReZeitKon)« durchgeführten repräsentativen Befragung. Erdmann und sein Team woll- ten unter anderem wissen, womit die Menschen ihre Zeit verbringen, wie stark sie von Zeitnot betroffen sind, wie und was sie konsumieren – und was sie tun würden, wenn sie am Tag eine Stunde mehr Zeit hätten. Die häufigsten Antworten Die Kunst des Zeitwohlstands Das fächerübergreifende Team von ReZeitKon, zu dem Ökonomen, Politikwissenschaftler, Umweltpsychologen, Nachhaltigkeitsforscher, Geistes- und Sozialwissenschaft- ler gehören, entwickelt Handlungsempfehlungen, die den grauen Herren von der Zeitsparkasse aus »Momo« das Handwerk legen und zu mehr Zeitwohlstand verhel- fen sollen. Der ist erreicht, so haben die Wissenschaftler herausgearbeitet, wenn fünf Kriterien erfüllt sind: 1 Das Lebenstempo wird als angemessen emp- funden. 2 Die Zeit ist planbar. 3 Ich kann souverän über meine Zeit entscheiden. 4 Ich habe ausreichend unverplante Zeit für Spontanität. 5 Eigen- und Fremdzeit sind synchronisiert. auf diese offene Frage zeichnen das Bild einer erschöpften Gesellschaft: schlafen, Sport, ausruhen, soziale Kontakte pflegen, lesen. Durchgeführt wurde die Befragung im Februar, noch vor dem Lockdown in Deutschland infolge der Corona-Pandemie. Für das Projekt schuf das Virus ganz neue Möglichkeiten. »Durch Corona gab es eine Systemstörung und wir mussten unseren Alltag verändern. Viele hatten plötzlich wesentlich mehr Zeit«, sagt Erdmann. Spontan schoben die Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler eine zweite Befragung nach. Sie wollten wissen: Was tun die Menschen mit der gewonnenen Zeit? Erste Ergebnisse zeigen: Schlafen und ausruhen sind von den vorderen Plätzen verschwunden. Stattdessen führen Heimwerken und Gartenarbeit die Liste mit den häufigsten Antworten an. Sind wir damit überfordert, einmal nichts zu tun? »So einfach ist es nicht«, sagt Erdmann. »Wir haben eben unseren Alltag, in dem wir Routinen ausprägen, und die lassen sich nicht so schnell ändern. Es gibt Lebensereignisse, die ein Zeit- fenster öffnen. Routinen werden durchgeschüttelt und neue ausgebildet. So ein Zeitfenster könnte Corona sein.« Aber nicht für alle. Erdmann betont, es sei wichtig, bei der Auswertung der Umfrageergebnisse genau hinzugucken und nach unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, Lebenslagen und -stilen zu differenzieren: »Auf Menschen mit viel Geld und viel Zeit, also die klassischen Privatiers, wirkt sich die Corona-Krise sicher anders aus als auf solche mit wenig Geld und wenig Zeit, also prekär Beschäftigte, mit zwei Kindern und zwei Jobs, die trotzdem kaum über die Runden kom- men. Bei denen ist der Zeit- und Gelddruck extrem hoch. Haben sie durch die Corona-Krise ihre Jobs verloren, vermin- dert sich zwar ihre Zeitnot, aber ihre Geldsorgen verschärfen sich. Solche mit wenig Zeit und viel Geld, gut verdienende Akademiker, denen ihr Beruf sehr wichtig ist, haben jetzt möglicherweise eine Entschleunigung erlebt – allerdings nur, wenn sie keine Kinder zu Hause betreuen mussten.« Auch wenn sich in der Gesellschaft gerade der Umgang mit Zeit ändert: »Mit dem Ausschleichen der Krise wird es starke Bestrebungen geben, wieder in die alten Muster zu fallen«, vermutet Zukunftsforscher Erdmann. Burn-out der Natur Doch damit droht bald die nächste Katastrophe, die Klima- katastrophe. Erdmann und seine Kollegen glauben, dass der Zeit-Rebound-Effekt erhebliche Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit hat – und damit stehen sie nicht allein. Adrienne Goehler vom Institut für transformative Nachhaltig- keitsforschung IASS in Potsdam ist sich sicher: »Nachhaltigkeit braucht Entschleunigung.« Eine Studie an der australischen